Interview mit Meister Nobuyoshi Tamura anlässlich der Pressekonferenz bei Eröffnung Shumeikan Wien Dojos am 11. Mai 2000.
Warum denken Sie, üben Menschen Aikido aus?
Manche erhoffen sich dadurch stark zu werden, andere üben es beispielsweise der Schönheit oder der Gesundheit wegen aus. Dann gibt es auch Menschen die durch Aikido stark im Kämpfen werden wollen. Die Beweggründe sind ganz unterschiedlich. So
unterschiedlich wie die Menschen selbst. Auch gibt es Menschen, die gerne Hakama anziehen, und deshalb Aikido ausüben.
Ich habe mal gelesen, dass Aikido schön machen soll. Wie wird man durch Aikido schön ?
Man kann durch Aikido schön werden im Herzen, im Körper und in den Gedanken. Das heißt, dass man eine Flexibilität, eine Freiheit erlangt. Dadurch wird man wieder so, wie der Mensch ursprünglich war. Man verliert das Wissen darüber, was einem Vor- und Nachteile bringt. Dadurch hört man auf, ständig auf seine Vorteile bedacht zu sein.
Darüber, ob man Aikido als Sport bezeichnen kann: Ursprünglich gab es in Japan das, was wir heute unter „Sport“ verstehen, nicht.
Erst als früher einmal ein berühmter Judo – Meister aus Japan nach Europa reiste, erfuhr er, dass es in Europa so etwas wie den Sport gibt. Dieser Meister kam zurück nach Japan und berichtete davon, dass es eben in Europa den „Sport“ als solchen gibt. Er war der Meinung, dass es in Japan auch so etwas geben müsse, und hat daraufhin Judo dem Sport angeglichen.
Doch ursprünglich war auch Judo kein Sport.
Vor 36 Jahren bin ich nach Frankreich gekommen. Damals habe ich Aikido nur als Budo angesehen. Erst als man mir in Frankreich sagte, ich müsse Aikido einem sportlichen Verband unterordnen, blieb mir nichts anderes übrig, als Aikido als „Sport“ zu bezeichnen.
Doch wenn man Aikido ausübt, begreift man mit der Zeit, dass es kein Sport ist oder auch nicht, vielleicht kommt man zu dem Entschluss, dass Aikido doch ein Sport ist. Das ist von Mensch zu Mensch verschieden.
Glauben Sie, dass sich künftig Aikido in Europa massenmäßig verbreiten wird?
Ja, das wird es. Schon derzeit wird Aikido in 50.000 bis 60.000 Verbänden ausgeübt, und es werden immer mehr. Die Zahl der Dojos wird nicht sehr viel steigen, aber man wird sich in Turnhallen und dergleichen versammeln.
Wie kann man sich das Gedankengut, die Lehre von Aikido im Management nützlich machen ?
Wie bei Aikido sollte man kämpfen, ohne seinen Gegner zu verletzen.
Wie kann man, denken Sie, die Gesellschaft ändern ?
Ich glaube nicht, dass ein Manager oder ein Politiker die Welt verändern kann. Die einzelnen Menschen sind es, die die Gesellschaft verändern können.
Wenn beispielsweise mehr Menschen Aikido ausüben werden, werden sich mehr Menschen verändern. Zunächst muss man beim Einzelnen anfangen, um die Gesellschaft wirksam verändern zu können.
Es gibt eine überlieferte Geschichte über eine Insel, die von Affen bewohnt wurde. Da diese Affen vom Aussterben bedroht waren, fingen die Menschen an, sie mit Kartoffeln zu füttern. Die Weibchen haben jedes mal diese Kartoffeln vor dem Essen im nahegelegenen Fluss gewaschen und anschließend gegessen. Und auch ihre Jungen haben es ihnen nachgemacht. Nur die Männchen haben es nie nachgemacht. Als dann der Fluss eines Tages ausgetrocknet ist, haben die Affen mehrere hundert Kilometer bis zum Meer zurückgelegt, um die Kartoffeln dort zu waschen. Doch durch das Meerwasser wurden die Kartoffeln salzig. So machten sich die Affen auf den Weg in die Berge um dort die Kartoffeln im Süßwasser zu waschen
Und auf diese Weise verbreitet sich auf nonverbalem Wege – wie eine Welle – das, was der Einzelne macht oder lebt.
Und auch Aikido und seine Philosophie wird auf ähnliche Weise bis nach Israel und Australien überliefert.
Aus welchen Beweggründen heraus haben Sie mit Aikido angefangen ?
Weil ich klein bin, weil ich stark werden wollte, weil ich etwas anderes machen wollte als mein Vater, der Kendo praktiziert hat, und weil es damals an der Mittelschule Pflicht war eine Budo – Art zu üben.
Über die Philosophie des Aikido
Auch Sie werden sicher in Ihrem Beruf als Journalist manchmal über etwas schreiben müssen, das Sie zunächst als langweilig empfinden. Das sich dann aber, wenn sie sich mit der Materie genauer befassen, doch als interessant herausstellt. Durch solche Erfahrungen werden Sie immer wieder etwas lernen.
Es geht darum, Dinge dadurch zu lernen, dass man sie selbst angreift und erlebt – durch Erfahrung also. Auch geht es darum, natürlich zu sein. Auch in dem Sinne, dass man keinen Extremen unterliegt. Wenn ich beispielsweise hier mein Glas Wein trinke, weiß ich genau wieviel mir gut tut. Alles, was man macht, soll man also in Maßen tun.
Wie lange muss man Aikido üben, um es einigermaßen zu beherrschen ?
Einmal.
(misstrauischer Blick der Journalistin)
Wirklich! Es geht darum, dass man das Gedankengut des Aikido erfasst. Manche erfassen es sofort, und andere wiederum üben die Techniken jahrelang, lernen aber nie Aikido wirklich verstehen.

Meister Tamura hat das Interview in Japanischer Sprache gegeben. Die Übersetzung erfolgte von Frau Mag. Monika Narita.
Anmerkung des Meisters zum Pressegespräch:
Bisher wurde ich meist von männlichen Journalisten interviewt, und das ist das erstemal, dass ich von so vielen weiblichen Journalisten interviewt wurde. Und ich bin sehr angenehm überrascht von den Reaktionen der Damen auf das Dojo und das Aikido. Zum Beispiel darüber, wie die Damen gesagt haben, sie hätten sich ausgeglichen gefühlt, sobald sie das Dojo betraten oder, dass die Atmosphäre des japanischen Raumes auf sie angenehm gewirkt habe.
Das ist es, was ich auch vorhin im Dojo erklärt habe: Dieses Jahrtausend wird ein weibliches Jahrtausend werden. Die Zeiten haben sich geändert und man merkt, dass dieses Jahrtausend von Gefühlen, Sensibilität und Liebe gekennzeichnet sein wird. Und das ist die wahre Intelligenz. Vorher war es ein männliches Zeitalter. Die Männer haben nur mit dem Kopf gedacht und die Frauen galten als dumm, weil sei gefühlsbetont sind. Doch das ändert sich jetzt. Man begreift nach und nach, dass das Gespür für etwas, die Sensibilität und die Liebe, die wahre Intelligenz ausmachen.
Daher wird auch das sture lernen von Theorien nach und nach überholt werden, und man wird einsehen, dass man nur durch Erfahrung am eigenen Leibe wirklich lernt. So wie wenn die Mutter das Kind liebevoll bei der Hand nimmt um es die neuen Dinge durch Berühren, Sehen und Hören kennenlernen zu lassen.